Tiwanaku-Architektur

Computergestützte Rekonstruktion Pumapunkus von Alexei Vranich

Tiwanaku-Architektur ist der Oberbegriff für die Architektur des Tiwanaku-Staats. Im engeren Sinn steht der Begriff für die Architektur Tiwanakus. Architekturhistoriker zählen die Steinarchitekturen von Tiwanaku zu den kunstvollsten der Welt.[1] Zudem gilt sie als weltweit einzigartig.[A 1]

Forschung

Die Tiwanaku-Architektur ist erst wenig erforscht. Die einzigen Forscher, die die Steinarchitekturen von Tiwanaku bisher systematisch untersuchten, sind

  • Léonce Angrand (1848)
  • Alfons Stübel (1892)
  • Jean-Pierre Protzen und Stella Nair (2013)

Hauptkomponenten

Nach dem Anthropologen Paul Goldstein lassen sich weitesten Sinne die Schlüsselelemente wie folgt kategorisieren:[2]

  • künstliche angelegte terrassierte Hügel (siehe z. B. Akapana und Pumapunku)
  • rechteckige Umfriedungen, einschließlich ummauerter Bezirke und abgesenkter Höfe (siehe z. B. Putuni und Kalasasaya)
  • Komplexe aus Toren und Treppen, die den Zugang zu Zeremonialkernen ermöglichten

Die Architekturhistoriker Jean-Pierre Protzen und Stella Nair ergänzen:

Diagnostische Merkmale

Abgestufte Faschen (in feiner Ausführung), die Nischen und Tore umgeben, sind ein diagnostisches Merkmal der Tiwanaku-Architektur. Außerdem sind das Stufenmotiv und Krampen mit denen Steinblöcke zusammengehalten werden, ein diagnostisches Merkmal. Das Motiv der abgestuften Fasche wurde von den Inka bei Pilkokaina übernommen und findet sich dort in weniger feiner Ausführung.[3] Zudem tritt das Motiv abgestufter Faschen oft in Reihen auf.

  • Abgestufte Faschen an einem Tor
    Abgestufte Faschen an einem Tor
  • Abgestufte Faschen an einem standardisierten Baublock
    Abgestufte Faschen an einem standardisierten Baublock
  • Stufenmotiv bei Kantatayita
    Stufenmotiv bei Kantatayita
  • T-förmige Krampenfassungen bei Ollantaytambo
    T-förmige Krampenfassungen bei Ollantaytambo
  • Reihe abgestufter Faschen an einem Stein vom „Escritorio“-Typ
    Reihe abgestufter Faschen an einem Stein vom „Escritorio“-Typ
  • Die Rückseite des sogenannten Sonnentors zeigt gestufte Faschen
    Die Rückseite des sogenannten Sonnentors zeigt gestufte Faschen

Abgestufte Faschen bzw. Laibungen finden sich vereinzelt auch in der Region Cusco beispielsweise bei Naupa Iglesia.

Einzigartigkeit und Vorläufer

Gemäß Max Uhle ist es unklar, ob an einem anderen Ort auf der Erde eine vergleichbare Architektur entwickelt wurde. Diese Architektur wäre zweifellos äußerst selten. Eine mögliche Bezeichnung wäre jedoch „megalithische Architektur“. Durch den Begriff „Architektur“ würde die künstlerische Natur der Konstruktion betont, während „megalithisch“ auf die Verwendung großer Steine als ein charakteristisches Merkmal dieser Architektur hinweist.[4]

Nach Jean-Pierre Protzen und Stella Nair seien viele Merkmale der Tiwanaku-Architektur tatsächlich bemerkenswerte Erfindungen der Tiahuanaco-Erbauer, für die nach bisherigem Kenntnisstand weder in der Architekturgeschichte der Anden noch in der Welt bekannte Vorläufer existierten.[5]

Die abgestufte Fasche, eines der Markenzeichen der Tiwanaku-Architektur, hat seine Vorläufer in Chiripa und möglicherweise auch in Pukara.[6]

Anmerkungen

  1. Nach dem Wissen von Architekturhistorikern, Archäologen und Materialwissenschaftlern sind die folgenden Merkmale/Innovationen (weltweit) einzigartig:
    • „Die Motive, die Feinheiten ihrer Schnitzereien und Oberflächen, die puzzleartigen Motivanordnungen, die Standardisierung von Bausteinen“, Protzen und Nair (2013), S. 132
    • „das Schnitzen verschiedener Motivabschnitte auf verschiedenen Steinen, bevor sie zu einer Gesamtkonfiguration zusammengesetzt wurden.“, Protzen und Nair (2013), S. 203
    • der Pumapunku-Stil, Protzen und Nair (2013), S. 133
    • „Rillen, die aus dem Boden und einer Seite eines geschliffenen Steins geschnitzt wurden“, Protzen und Nair (2013), S. 184
    • das nahezu isodomische Tiwanaku-Mauerwerk, Protzen und Nair (2013), S. 83
    • der Tiwanaku-Hebegriff, Protzen und Nair (2013), S. 186; Vranich (2018), S. 14
    • „die Tiwanaku hatten die einzigartige Fähigkeit, Steine perfekt horizontal zu vermauern.“, Vranich (2018), S. 14
    • Versenkte, versteckte Krampen in eine oder sogar zwei Richtungen zeigen, Protzen und Nair (2013), S. 195
    • „einzigartiges städtisches Wasserversorgungssystem mit vielen fortschrittlichen hydraulischen und hydrologischen Funktionen“, Ortloff (2020), S. 1
    • „Tiwanaku-Bodennägel, insbesondere solche mit abgeschnittenen Spitzen, die als Fundament- oder Ausgleichssteine verwendet werden.“, Protzen und Nair (2013), S. 202
    • Perforationen in Andesit-Artefakten mit einzigartigen Eigenschaften von denen angenommen wird, dass sie Bohrlöcher; die meisten haben einen Durchmesser von 4 mm, eine gleichbleibende Tiefe, eine vertikale Ausrichtung, einen flachen Boden und regelmäßige Abstände, Gara und Davidovits (2020), S. 195

Einzelnachweise

  1. Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: The Stones of Tiahuanaco: A Study of Architecture and Construction. Band 75. Cotsen Institute of Archaeology Press, University of California, Los Angeles 2013, S. 7.
  2. Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: The Stones of Tiahuanaco: A Study of Architecture and Construction. Band 75. Cotsen Institute of Archaeology Press, University of California, Los Angeles 2013, S. 19.
  3. Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: The Stones of Tiahuanaco: A Study of Architecture and Construction. Band 75. Cotsen Institute of Archaeology Press, University of California, Los Angeles 2013, S. 132.
  4. Alfons Stübel, Max Uhle: Die Ruinenstätte von Tiahuanaco im Hochlande des alten Perú: Eine kulturgeschichtliche Studie auf Grund selbständiger Aufnahmen. Hiersemann, Leipzig 1892, Zweiter Teil, S. 39 (digi.ub.uni-heidelberg.de).
  5. Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: The Stones of Tiahuanaco: A Study of Architecture and Construction. Band 75. Cotsen Institute of Archaeology Press, University of California, Los Angeles 2013, S. 202.
  6. Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: The Stones of Tiahuanaco: A Study of Architecture and Construction. Band 75. Cotsen Institute of Archaeology Press, University of California, Los Angeles 2013, S. 209.

Literatur

  • Alfons Stübel, Max Uhle: Die Ruinenstätte von Tiahuanaco im Hochlande des alten Perú: Eine kulturgeschichtliche Studie auf Grund selbständiger Aufnahmen. Hiersemann, Leipzig 1892, doi:10.11588/diglit.21775.
  • Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: Who taught the Inca stonemasons their skills? A comparison of Tiahuanaco and Inca cut-stone masonry. The Journal of the Society of Architectural Historians 1997, Band 56, Nr. 2.
  • Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: On Reconstructing Tiwanaku Architecture. The Journal of the Society of Architectural Historians 2000, Band 59.
  • Jean-Pierre Protzen, Stella Nair: The Stones of Tiahuanaco: A Study of Architecture and Construction. Band 75, Cotsen Institute of Archaeology Press, University of California, Los Angeles 2013.